Robotik, Navigation, Mixed Reality: kaum ein medizinisches Feld verändert sich so schnell wie die Chirurgie. Gleichzeitig werden Patientengeschichten komplexer: Menschen werden älter, leben länger mit chronischen Erkrankungen und benötigen Behandlungen, die präziser und besser abgestimmt sind als früher.

Umso wichtiger ist es, dass im Klinikalltag Wissen, Daten und Technologien nahtlos zusammenspielen. Wie das gelingen kann?
Wir haben nachgefragt bei Claas Albers, CEO der AO Foundation – einer weltweit führenden Organisation für chirurgische Ausbildung und Forschung – sowie Nils Ehrke, Sales President EMEA bei Brainlab.

Beyond the Lab: Herr Albers, unter Chirurginnen und Chirurgen ist die AO Foundation ein fester Begriff. Wie würden Sie allen Nicht-Chirurg:innen erklären, wofür die AO steht?

Claas Albers: Die AO ist tatsächlich eine außergewöhnliche Organisation. Als sie Ende der 1950er Jahre gegründet wurde, gab es die moderne Unfallchirurgie in ihrer heutigen Form noch nicht. Knochenbrüche wurden häufig wochenlang ruhiggestellt – mit all den Folgen, die das mit sich bringt: lange Bettzeiten, steife Gelenke, schlechtere Heilungschancen und ein deutlich höheres Risiko, dauerhaft eingeschränkt zu bleiben.
Die Gründer der AO – eine kleine Gruppe Schweizer Chirurgen – stellten dieses Vorgehen radikal infrage. Sie entwickelten vier Grundprinzipien, die bis heute gültig sind: Brüche möglichst anatomisch wieder einrichten, sie stabil fixieren, das umliegende Gewebe schonen und Patientinnen und Patienten früh mobilisieren.

Entscheidend war aber nicht nur der medizinische Ansatz, sondern auch die Konsequenz, mit der die AO-Gründer ihr Wissen dokumentierten und weitergaben. Sie sammelten OP-Daten, verglichen Ergebnisse und schulten Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt. Das war damals revolutionär – und hat die Traumatologie nachhaltig geprägt.

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Die AO Foundation ist eine unabhängige, gemeinnützige Organisation mit Sitz in der Schweiz. Sie wurde 1958 von visionären Chirurgen gegründet, die die Frakturbehandlung grundlegend verbessern wollten.

Heute gehört die AO zu den weltweit einflussreichsten Institutionen in der Traumatologie und Orthopädie. Ihr Markenzeichen: wissenschaftliche Evidenz, kontinuierliche Forschung und die systematische Weitergabe von Wissen.

Wie sieht die Rolle der AO heute aus?

Claas Albers: Unsere Mission ist unverändert: Wir wollen Chirurg:innen weltweit besser machen. Dafür betreiben wir Forschung, entwickeln Implantate und Instrumente mit, führen klinische Studien durch und schulen jedes Jahr Zehntausende Ärztinnen und Ärzte in über 160 Ländern.

Uns ist wichtig, dass diese Weiterbildung wissenschaftlich fundiert, unabhängig und global zugänglich ist. Gute Versorgung darf nicht davon abhängen, ob jemand in einer Universitätsklinik oder in einem abgelegenen Krankenhaus arbeitet. Wenn wir Wissen weltweit verbreiten, profitieren Patientinnen und Patienten überall.

Wo sehen Sie aktuell denn die größten Entwicklungen in der Chirurgie?

Claas Albers: Implantate entwickeln sich weiter, aber der größte Hebel liegt inzwischen eindeutig in Daten. Wir verstehen viel besser, wie es Patientinnen und Patienten nach einer Operation tatsächlich geht – nicht nur auf dem Röntgenbild, sondern im echten Leben.

Wir sehen heute zum Beispiel, wie weit jemand zehn Tage nach einem Eingriff gehen kann, wie sicher die Bewegungen sind, wie Schmerzen sich entwickeln oder wann Patientinnen und Patienten wieder ihrem Alltag nachgehen können. Wenn man diese Daten strukturiert und mit Tausenden ähnlichen Fällen vergleicht, erkennt man Muster: Welche Behandlung verläuft besonders gut? Welche Faktoren beschleunigen die Genesung? Und wo tauchen Risiken früher auf als erwartet?

Solche Zusammenhänge waren früher kaum sichtbar. Heute helfen sie dabei, Behandlungen individueller anzupassen und Entscheidungen besser abzusichern – ein echter Vorteil für Patientinnen und Patienten.

Herr Ehrke, welchen Beitrag leistet Brainlab, um solche Daten sinnvoll nutzbar zu machen?

Nils Ehrke: Unser Beitrag besteht darin, den gesamten Behandlungspfad digital miteinander zu verbinden. Früher standen Bildgebung, Planung, Operation und Nachsorge oft getrennt nebeneinander. Heute können wir diese Schritte auf einer Plattform zusammenführen – und genau dadurch werden Daten wirklich nutzbar.
Wenn man sehen kann, was geplant wurde, wie präzise es umgesetzt wurde und wie es den Patientinnen und Patienten danach geht, entsteht ein vollständigeres Bild. Und dieses Gesamtbild hilft Teams, Entscheidungen besser abzusichern und Behandlungen gezielter zu steuern.

Diese Daten, die heute entlang dieses angesprochenen Behandlungspfads entstehen, kommen aber doch aus sehr unterschiedlichen Technologien und Systemen. Wird diese Vielfalt im klinischen Alltag auch zur Herausforderung?

Nils Ehrke: Ja, absolut. In vielen Kliniken arbeiten heute Bildgebung, Planung, Navigation und Dokumentation auf ganz unterschiedlichen technologischen Inseln. Jedes System funktioniert für sich gut, aber sie sprechen oft nicht miteinander. Für Teams bedeutet das: Daten müssen manuell übertragen, verglichen oder neu eingegeben werden – und dabei geht Zeit verloren, manchmal auch Information.

Unser Ansatz ist deshalb, diese Technologien auf einer offenen Plattform zusammenzuführen. Wenn Bildgebung, Planung, OP-Durchführung und Nachsorge miteinander verknüpft sind, entsteht ein durchgängiger Workflow. Dann liegen die relevanten Daten dort vor, wo sie gebraucht werden – ohne Medienbrüche und ohne Umwege. So werden OP-Abläufe optimiert; das entlastet die Teams und macht Entscheidungen am Ende sicherer.

Klingt alles noch ein bisschen abstrakt…

Claas Albers: Denken Sie doch beispielsweise mal an das Thema Robotik in der Chirurgie. Ein Roboter allein macht eine Operation nicht automatisch besser. Er braucht präzise Bildgebung, eine saubere Planung, verlässliche Navigation und klar definierte Schritte im Ablauf. Wenn diese Technologien getrennt voneinander laufen, kann man das Potenzial nicht ausschöpfen.

Wenn sie jedoch integriert sind – also, wenn der Roboter genau weiß, was geplant wurde, wie die Anatomie aussieht und wie er sich im Raum orientieren muss –, entsteht ein wirklich reproduzierbarer und sicherer Prozess. Robotik zeigt sehr deutlich, wie entscheidend das Zusammenspiel der Systeme ist: Erst in einem funktionierenden Workflow entfalten solche Technologien ihren Wert.

Patientinnen und Patienten profitieren sehr konkret: Sie haben weniger Komplikationen, kommen schneller wieder auf die Beine und finden schneller in ihren Alltag zurück.

Claas Albers, CEO der AO Foundation

Wenn Sie das Beispiel schon ansprechen: Welche Rolle wird Robotik denn künftig spielen?

Claas Albers: Robotik macht die Chirurgie nicht per se besser, sondern verlässlicher. Sie reduziert die körperliche Belastung der Chirurg:innen, steigert die Präzision und führt somit zu besseren Ergebnissen für Patientinnen und Patienten.

Nils Ehrke: Wie Claas schon sagte: Robotik ist dann stark, wenn der Workflow stimmt. Ein Roboterarm alleine verbessert nichts. Aber wenn Bildgebung, Planung und Navigation harmonieren, dann bringt Robotik Struktur, Ruhe und Präzision in komplexe Abläufe – und dadurch steigt sowohl die die Qualität der Behandlung als auch die Sicherheit im OP.

Ein bisschen klingt es so, als ob wir eigentlich schon weiter sein könnten. Wo sehen Sie ungenutztes Potenzial?

Claas Albers: Wir haben heute sehr viel Wissen und Technik, aber oft greifen diese Bausteine im Alltag noch nicht ineinander. Häufig liegen Bilder, Planung und Dokumentation in unterschiedlichen Systemen – und dazwischen müssen Teams ständig Daten übertragen, vergleichen oder neu eingeben.

Wenn diese Schritte enger miteinander verknüpft wären, ließe sich vieles vereinfachen: Relevante Informationen würden automatisch dort auftauchen, wo sie gebraucht werden, Teams müssten weniger nacharbeiten, und Entscheidungen würden auf einer gemeinsamen Informationsbasis getroffen. Das macht Behandlungen konsistenter und für alle Beteiligten nachvollziehbarer.

Ein besonders spannendes Feld ist die Sensortechnologie. Man kann sich das so vorstellen: Implantate der Zukunft könnten Rückmeldung geben – etwa wie stabil eine Fraktur heilt, wie viel Belastung bereits möglich ist oder ob sich eine Entzündung entwickelt. Solche Informationen in Echtzeit würden uns helfen, die Therapie individuell anzupassen: früher mobilisieren, gezielter schonen oder schneller eingreifen, wenn sich etwas verändert. Das könnte die Genesung beschleunigen und Komplikationen vermeiden – ein echter Gewinn für Patientinnen und Patienten.

Nils Ehrke: Und die Voraussetzung ist klar: echte Integration. In vielen Kliniken stehen heute zahlreiche Systeme nebeneinander – aber sie sind nicht sinnvoll verknüpft. Wir setzen deshalb auf eine offene Plattform, die unabhängig von Implantatherstellern funktioniert. Erst wenn Technologien aus Bildgebung, Planung, Navigation, Robotik und Ergebnisdokumentation sinnvoll zusammenwirken, können wir ihr volles Potenzial wirklich ausschöpfen – und das weltweit.

Dabei hilft uns die AO enorm. Sie bringt die Perspektive aus der chirurgischen Ausbildung und aus sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen ein. Wir lernen dadurch, welche Lösungen nicht nur technisch funktionieren, sondern auch im Alltag, überall auf der Welt. Diese Kombination aus Technologieentwicklung und praktischer Erfahrung ist ein großer Vorteil.

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Wirbelsäulenchirurgie:
Integrierte und skalierbare Lösungen für wirklich personalisierte Entscheidungen

Was fehlt denn noch, um dieses Potenzial wirklich auszuschöpfen?

Claas Albers: Erstens Zeit – denn Daten zeigen erst dann hilfreiche Muster, wenn sehr, sehr viele Fälle gesammelt und ausgewertet sind. Das dauert, lässt sich aber nicht abkürzen.

Und zweitens Ausbildung. Je individueller wir behandeln, desto mehr Informationen brauchen wir für unsere Entscheidungen. Das ist also anspruchsvoller als früher. Deshalb brauchen wir neue Lernformen – etwa Simulationen, Mixed-Reality-Visualisierung oder digitale Leitlinien direkt am OP-Tisch. Sie helfen, im entscheidenden Moment auf das bestmögliche Wissen zuzugreifen.

Damit diese Ansätze weltweit Wirkung entfalten können, müssen sie nicht nur technisch reif, sondern auch skalierbar sein – also so gestaltet, dass sie in sehr unterschiedlichen Strukturen funktionieren. Genau dabei ist die Zusammenarbeit mit Brainlab so wertvoll.

Nils Ehrke: Und wir müssen realistisch bleiben: Nicht jede Klinik kann sofort mit demselben Technologieumfang starten. Unser Anspruch ist deshalb, Lösungen zu entwickeln, die überall funktionieren – ob in einem großen Zentrum oder einer kleineren Klinik. Neben aller Technik bleibt dabei die Ausbildung einer der entscheidenden Faktoren für den Behandlungserfolg – in München genauso wie in Marrakesch oder Sao Paolo.

Sie haben die Kooperation zwischen AO und Brainlab jetzt ja schon angesprochen – wie sieht die konkret aus?

Claas Albers: Sehr eng. Wir nutzen Brainlab-Technologien seit Jahren in unseren Kursen und Trainings, weil sie uns helfen, komplexe Eingriffe verständlich und nachvollziehbar zu vermitteln. Gemeinsam entwickeln wir neue Lernformate – etwa interaktive Planungsübungen oder Simulationen –, die Chirurginnen und Chirurgen nicht nur Theorie vermitteln, sondern echte Entscheidungen üben lassen. Außerdem analysieren wir zusammen typische Abläufe im OP und fragen uns: Wo geht Information verloren? Wo wird es für Teams unübersichtlich? Und wie können wir Workflows so gestalten, dass sie weltweit funktionieren?

Wichtig ist uns, dass diese Tools nicht nur in hochspezialisierten Zentren einsetzbar sind, sondern auch in kleineren Kliniken. Genau da ergänzt sich die Zusammenarbeit sehr gut. Wir verfolgen dasselbe Ziel: eine sichere, transparente und gut nachvollziehbare Arbeitsweise – unabhängig vom Implantat, vom Hersteller oder vom Land. Und wir arbeiten gemeinsam daran, dieses Wissen nicht nur in Kursen zu vermitteln, sondern direkt in die Praxis zu tragen.

Nils Ehrke: Für Brainlab ist die AO in zweierlei Hinsicht ein enorm wichtiger Partner. Zum einen, weil sie als unabhängige Organisation sehr nah dran ist an den Chirurginnen und Chirurgen – in Kursen, im Netzwerk, in ganz unterschiedlichen Gesundheitssystemen. Dort sehen wir sehr konkret, wo im Alltag Unsicherheiten entstehen oder Informationen fehlen.

Zum anderen ist die AO für uns eine Plattform, über die wir früh Feedback zu neuen Entwicklungen bekommen: Wie gut lässt sich eine Softwareoberfläche bedienen? Wo hakt ein Registrierverfahren? Welche Schulungsformate helfen wirklich weiter? Diese Rückmeldungen fließen direkt in neue Anwendungen ein. Unser Anspruch ist es, Technologien so zu gestalten, dass sie sich im OP leicht einsetzen lassen, die Teams entlasten und sich in ganz unterschiedlichen Kliniken umsetzen lassen. Denn am Ende profitieren Patientinnen und Patienten davon, wenn gute Abläufe überall zuverlässig funktionieren.

Am Ende sind es oft die vielen kleinen Verbesserungen in den vielen Details eines Behandlungsablaufs, die sich für Patientinnen und Patienten zu einer deutlich besseren Behandlung aufsummieren. Und die Partnerschaft mit der AO hilft uns dabei, diese deutlich besseren Behandlungen nicht nur in einigen Top-Kliniken zu erreichen, sondern weltweit in allen möglichen Umgebungen.

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Claas Albers leitet seit 2022 die AO Foundation und bringt eine außergewöhnliche Kombination aus medizinischem Know-how, Managementerfahrung und internationaler Perspektive ein.

Bevor er zur AO kam, war er viele Jahre in leitenden Positionen im globalen Gesundheitswesen tätig. Er ist der festen Überzeugung, dass moderne Versorgung nur durch Zusammenarbeit und skalierbare Lösungen erreichbar ist.

Zum Abschluss: Was spüren Patientinnen und Patienten konkret von all diesen Entwicklungen?

Claas Albers: Patientinnen und Patienten profitieren sehr konkret: Sie haben weniger Komplikationen, kommen schneller wieder auf die Beine und finden schneller in ihren Alltag zurück.

Nils Ehrke: Und Operationen werden verlässlicher. Wenn Eingriffe nach klaren, standardisierten Schritten geplant und mit digitalen Hilfsmitteln begleitet werden, hängen die Ergebnisse weniger vom Zufall ab. Das macht Behandlungen reproduzierbarer und sicherer. Für Patientinnen und Patienten heißt das: weniger Komplikationen und eine schnellere Rückkehr in ihren Alltag.