Robotik in der Chirurgie wird häufig als bahnbrechende Revolution gefeiert, insbesondere im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie. Nils Ehrke, President EMEA bei Brainlab, warnt jedoch davor, Robotik als alleinige Lösung für den Fortschritt in diesem Fachgebiet zu betrachten. Er betont, dass medizinische Einrichtungen die Vorteile der Robotik nur dann voll ausschöpfen können, wenn diese als ein Baustein innerhalb einer umfassenderen Strategie zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der Wirbelsäulenchirurgie betrachtet wird.
In einem aktuellen Gespräch gab Herr Ehrke Einblicke, wie sich Robotik sinnvoll in den chirurgischen Ablauf integrieren lässt. Er teilte wertvolle Ratschläge für medizinische Einrichtungen, die diese Technologie in ihre Abteilungen einführen möchten, und erläuterte, wie durch Prinzipien aus dem Sportbereich eine hochleistungsfähige Chirurgie erreicht werden kann.
Nils Ehrke studierte Biomedizinische Technik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg sowie an der University of California, San Diego. Nach seinem Einstieg ins Brainlab-Vertriebsteam 1996 übernahm er 2000 die Verantwortung für das Europageschäft und seit 2018 zusätzlich für die Märkte im Nahen Osten und Afrika. Sein ingenieurwissenschaftlicher Hintergrund hilft ihm, die Bedürfnisse der Kund:innen zu verstehen und technologische Trends gezielt in maßgeschneiderte Lösungen zu übersetzen. Aktuell liegt sein Schwerpunkt auf Navigation und Robotik in der Wirbelsäulenchirurgie.
Was raten Sie Kliniken, die überlegen, Robotiklösungen für ihre Wirbelsäulenchirurgie zu erwerben?
Nils Ehrke: Viele Anbieter preisen Robotik derzeit als Revolution in der Wirbelsäulenchirurgie an, dabei macht sie nur einen kleinen Teil des Arbeitsablaufes im OP-Saal aus. Sie baut auf vielen Schritten einer gesamten Prozesskette auf und kann nur so gut sein wie das schwächste Glied in dieser Kette. Auch in der robotisch unterstützten Wirbelsäulenchirurgie sind es mehrere Teilaspekte und eine nahtlose Integration all dieser in den chirurgischen Ablauf, die in ihrer Gesamtheit den entscheidenden Unterschied machen.¹
Echte High-Performance-Chirurgie ist bei genauer Betrachtung das Resultat von vielen kleinen Verbesserungen an jeder Stellschraube des Arbeitsablaufes, die sich dann am Ende aufaddieren und so die Patientenbehandlung auf ein neues Niveau heben.² Dieses Prinzip stammt ursprünglich aus dem Hochleistungssport und erlangte unter der Bezeichnung „Aggregation of Marginal Gains” vor einigen Jahren Berühmtheit, da damit sportliche Grenzen verschoben wurden, die vormals als unerreichbar galten.
Wenn Kliniken nun daran denken, in Robotik zu investieren, mache ich auf genau dieses Prinzip aufmerksam und erinnere daran, dass Robotik nur ein Teilaspekt im Gesamtsystem ist. Bevor in diesen Bereich investiert wird, empfehle ich, erst die „Basics” in den Blick zu nehmen, d. h. eine genaue Bildgebung, Software-Planung, Patientenregistrierung und Navigation. Wenn dann noch Budget vorhanden ist, kann der Roboterarm das letzte Glied in der Kette sein.
Wie sieht Ihr Lösungsansatz hier aus?
Nils Ehrke: Um diesem ganzheitlichen Konzept Rechnung zu tragen, haben wir das Robotic Suite Konzept entwickelt. Es besteht aus dem mobilen Bildgebungsroboter Loop-X®, dem Curve® Navigation System und dem Roboterarm Cirq®. Alle Komponenten sind nahtlos miteinander integriert, aufeinander abgestimmt und im Arbeitsablauf optimiert. Den Chirurg:innen steht nicht nur ein robotischer Arm zur Verfügung, sondern eine Infrastruktur, die auf jedes Detail im Arbeitsablauf größten Wert legt. Diese gesamtheitliche Betrachtung und Berücksichtigung jedes Details kann, genauso wie das Prinzip der Marginal Gains im Sport, künftig Behandlungserfolge möglich machen, die vor wenigen Jahren noch in weiter Ferne lagen.
Das heißt, am Ende steht gar nicht die Robotik selbst im Mittelpunkt?
Nils Ehrke: Richtig, denn jedes Detail des Arbeitsablaufes ist von großer Bedeutung für den Behandlungserfolg, gerade wenn es um Eingriffe an kritischen Strukturen wie der Halswirbelsäule geht. Schließlich ist eine der größten Herausforderungen der robotischen Wirbelsäulenchirurgie, dass die Wirbelsäule ein sehr flexibles Organ ist. Ein unerfahrener Operateur darf sich daher nicht nur auf die Technik verlassen, sondern muss alle Faktoren, die für die Präzision eine Rolle spielen, genau im Blick behalten. Robotik ist vor diesem Hintergrund nur ein Add-On zur Navigation, jedoch mit dem Potential, weitere wichtige Faktoren wie Standardisierung, Effizienzsteigerung und ergonomische Verbesserung für die Chirurg:innen zu ermöglichen. Das Wichtigste ist, dass Chirurg:innen den klinischen Arbeitsablauf und die dazugehörige Technik in der Tiefe verstehen, um diese richtig einsetzen zu können.
Wie gelingt es, dieses Verständnis zu vermitteln?
Nils Ehrke: Der Grundstein hierfür sollte schon in der Ausbildung gelegt werden. Jeder will heute Robotik einsetzen, jeder will mit Navigation arbeiten, aber in unerfahrenen Händen, ohne Training und mit einem nicht-optimalen Prozess, entstehen Probleme. Daher erarbeiten wir gemeinsam mit Partnern wie der AO Foundation neue digitale Trainingskonzepte für die Ausbildung, die z. B. Augmented-Reality-Funktionalitäten oder App-basierte Gamification-Programme umfassen. Dabei betrachten wir den operativen Arbeitsablauf und beziehen ihn in unsere Trainings mit ein. Durch unsere digitalen Trainingsmethoden helfen wir Chirurg:innen dabei, ein „Mentales Modell“ für Operationen aufzubauen, um sich gut auf diese vorzubereiten – in Zukunft sogar patientenspezifisch. Dabei spielen auch Daten eine wichtige Rolle.
Inwiefern?
Nils Ehrke: Herzstück der modernen Wirbelsäulenchirurgie ist nicht die Robotik per se, sondern das gesamte Software-Ökosystem. Dazu zählen neben digitalen Lernkonzepten auch Planungssoftware und Datenbanken. Eine strukturierte Datenerhebung über viele Patient:innen könnte die Behandlungsqualität verbessern. Sie sollte daher Teil des klinischen Arbeitsablaufs sein. Wir arbeiten bereits mit der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft am Aufbau einer Datenbank, die die Daten vieler tausend OPs analysiert, segmentiert und mit den Patient Reported Outcome Measures korreliert. Basierend auf dieser Datenbasis können Chirurg:innen beispielsweise analysieren, ob Schrauben oder Cages richtig sitzen und wie es den Patient:innen am Ende damit geht. Über weitere Datenaggregationen erhalten Ärzt:innen Input und Support für eine datenbasierte und potentiell bessere Therapieentscheidung³, die unter anderem patientenspezifische Faktoren wie Alter oder Geschlecht einbezieht. So können wir den Weg in Richtung patientenspezifische Medizin ebnen.
Das klingt, als wäre in der Wirbelsäulenchirurgie derzeit vieles im Umbruch. Wo geht die Reise hin?
Nils Ehrke: Tatsächlich vollzieht sich hier gerade ein Paradigmenwechsel: Nicht das Implantat steht im Mittelpunkt, wenn es darum geht, die moderne Wirbelsäulenchirurgie voranzubringen – treibender Faktor ist Software, gerade in Zeiten des rasanten Entwicklungsfortschritts generativer KI. Mit dem Robotic Suite Konzept wollen wir eine offene Plattform anbieten, die mit Implantaten möglichst vieler Hersteller kompatibel ist. Dies versetzt Kliniken in die Lage, Implantate frei nach chirurgischen, fachlichen, aber auch wirtschaftlichen Kriterien zu wählen, ohne durch die Navigation oder Robotik auf einen Implantathersteller beschränkt zu sein. Diese Wahlfreiheit wird es Kliniken erlauben, Ressourcen effizienter zu nutzen, und Behandlungen möglich machen, die präzise auf die Bedürfnisse des einzelnen Patienten zugeschnitten sind.